Wie ich meine "Plattdeutschen Volksmärchen aus Ostpreussen" aufschrieb
Mein Weg zu den „Plattdeutschen Volksmärchen” war ein weiter. Die Erfüllung der beiden grössten Vorbedingungen hierzu lag in meiner Kinderzeit. Ich bin auf dem Gut meines Vaters, das etwa 18 km. von Beisleiden entfernt lag, aufgewachsen und habe dort, im Spiel mit den gleichaltrigen Arbeiterkindern, den plattdeutschen, süd-natangischen Dialekt, genau so wie er in Beisleiden gesprochen wird, vollständig beherrschen gelernt. Ebenso wesentlich wurde für meine späteren, volkskundlichen Sammlungen das Wissen darum, wie man dem sich stets verschieden äußernden und doch ewig gleichbleibenden Misstrauen der Arbeiter gegen die Herrenkaste begegnet. Auch hierin waren die Arbeiterkinder meine Lehrmeister.
„Unbedingtes Worthalten, Wahrheitsliebe, absolute Höflichkeit verbunden mit sehr ruhiger Freundlichkeit und doch Innehalten der Schranken, die sie einem als social anders gestellten Menschen zuweisen”, gehören dazu.
Ich habe mein Verhalten danach gerichtet und zugleich auch nie die bei unseren natangischen Arbeitern geltenden, von den üblichen oft so abweichenden Höflichkeitsregeln vergessen.
Die Arbeiterfrauen erwarten, trotzdem sie es jedesmal bescheiden ablehnen, ein Entgelt in irgend einer Form für die Zeit, die sie mir mit Märchenerzählen oder Liedervorsingen geopfert haben. Was ich ihnen auch immer gab, es musste stets randvoll sein, gleichviel ob es ein Körbchen Obst oder ein Topf Kaffee war. Ergab sich im Augenblick die Unmöglichkeit hierfür, so habe ich mich stets entschuldigt. Dieser ungeschriebenen Anstandsregeln gibt es eine Menge und ich habe sie als Volkskunde-Sammlerin nie ausser Acht gelassen.
Schon im Jahre 1907, als ich als junge Frau nach Beisleiden kam, fing ich an, hier und da ein hübsches Lied aufzuschreiben, das ich von arbeitenden Speichermädchen oder heimkehrenden Schnittern hörte. Die Texte liess ich mir von meinem Mädchen oder meinen beiden Waschfrauen ergänzen. In der ersten Zeit stiess ich auf Spott und harte Ablehnung, aber als die Leute mich öfter ihre alten Melodien spielen und singen hörten, wurden sie nach und nach zutraulicher und brachten mir auch von sich aus manches hübsche Lied. Was von diesem Material nicht in „Ed. Röses Lebenden Spinnstubenliedern” Verwendung gefunden hatte, ging 1914 beim Russeneinfall verloren.
Durch einen Aufruf in der Zeitung wurde ich auf das „Preussische Wörterbuch” an der Universität in Königsberg i. Pr. aufmerksam und fing nun eifrig an, unterstützt durch anregende Hinweise von Herrn Professor Ziesemer, Volkskunde zu sammeln.
Das Misstrauen der Arbeiterfrauen flammte wieder auf. Dass ich Lieder sammelte, an das Unerhörte hatten sie sich gewöhnt, fanden es sogar hübsch, aber dass ich nun anfing ihre Sitten und Gebräuche, vor allem ihren Aberglauben aufzuschreiben, empörte sie, und wenn ich die Fragebogen des Wörterbuches ausfüllend um Auskunft bat, so erhielt ich nichtssagende Antworten und eine alte Frau belehrte mich sogar, dass sich das nicht für eine „Fruu” schicke.
Ich sah ein, dass ich so nicht weiter kam und zunächst Papier und Bleistift bei Seite lassen musste. Die Arbeit reizte mich, und ich versuchte nun, diese oder jene Frau etwas zu fragen, wenn ich mit ihr allein war. Das konnte natürlich nur zufällig geschehen, ohne Misstrauen zu erregen, Aber es liess sich doch einrichten. Durch plumpes Fragen hätte ich nichts erreicht, durch vorsichtiges Aushorchen auch nichts, und so fing ich denn an, von dem zu erzählen, was ich einst zu Hause beim Spielen mit unseren Dorfkindern gehört hatte. Diese Taktik erwies sich als gut, aber was den Aberglauben anbetraf, nicht durchgreifend genug. Nun erzählte ich Bruchstücke von Spukgestalten aus meiner Erinnerung, die mir schon freundlichst ergänzt oder richtig gesteht wurden. Eines Tages dann erklärte mir eine ganz alte Frau: „Se weete je doch all allä, Fruuke, denn wa ick man Stelle.”
Die fest geschlossene Ablehnung der Arbeiterfrauen war gesprengt, und wenn ich nun von einer anderen Frau Auskunft erbat und sagte, was mir die Frau K. aus den Zwölften erzählt hatte, so bekam ich sie fast rückhaltlos. Es erschien den Frauen nunmehr zwecklos, mir etwas vorzuenthalten, allerdings musste ich es in den Kauf nehmen, dass ich in ihren Augen ein ganz absonderlicher Mensch war, denn das was ich wissen wollte, ja, darum kümmerte sich nicht einmal der Lehrer.
Jetzt galt es das Misstrauen gegen das Schreiben zu überwinden. Die Frauen meinten, wenn ich, für meine Person, um das Volksgut wüsste, so genüge es, aber „de Herres in ä Stadt” ginge das nichts an, und um sich von ihnen auslachen zu lassen, dazu wären ihnen ihre alten Bräuche zu schade und sie sich selber auch. Zufällig erhielt ich in dieser Zeit einen Brief von Herrn Professor Ziesemer, in dem er über meine bisherigen Einsendungen und vor allem über die vorbildliche Treue schrieb, mit der unsere Beisleider Arbeiter an ihren alten Überlieferungen hingen.
Diesen Brief nun brachte ich der alten Frau K. und überzeugte sie davon, dass auch an anderen Orten all das, was ich wissen wollte, gesammelt wurde, und dass es wenig rühmlich für unsere Arbeiter sei, wenn sie dümmer als die in anderen Dörfern wären. Von jetzt ab durfte ich auch in Gegenwart der Arbeiterfrauen schreiben.
Inzwischen war an der Universität in Königsberg das Institut für Heimatforschung gegründet worden. Direktor war Herr Professor Ziesemer. Eines Tages, als ich gerade mit 5 Frauen zusammen Johannisbeeren zum Weinmachen pflückte, kam von diesem Institut die Aufforderung, Lieder zu sammeln. Ich zeigte den Frauen das Schriftstück und sie fingen sofort an zu singen, während ich Texte schrieb. Sie sagten mir auch, dass Frau W. ganz wunderschöne alte Lieder sänge.
Einige Jahre habe ich nun gesammelt, über 400 Lieder zusammenbekommen und habe die Frauen auch daran gewöhnt, selber die Texte aufzuschreiben, da sie ihnen im Augenblick oft nicht mehr geläufig waren und sie auch andere Frauen um vergessene Verse fragen mussten. Es war ja auch bei Balladen bis zu 23 Versen kein Wunder. Nun lernte ich auch den ungeheuren Liederreichtum von Frau W., meiner späteren Märchenerzählerin, kennen und ihr fabelhaftes Melodiengedächtnis schätzen. Ihre Lieder waren ja auch den meisten anderen Frauen unseres Dorfes bekannt, aber sie entsannen sich ihrer erst und sangen sie dann weiter, wenn man sie darauf brachte. Es lag durchaus nicht böse Absicht, sondern nur Vergesslichkeit vor. Dass sich bei dem Liedersammeln auch volkskundlich sehr viel Wertvolles ergab, war ja durch das vertraute Zusammenarbeiten bedingt und selbstverständlich.
Als der Liederreichtum sich immer mehr verringerte, schickte Herr Professor Ziesemer uns einen Studenten als Gast ins Haus. Dieser, ein Herr A., zeichnete die Flurnamen von Beisleiden und den umliegenden Ortschaften in Karten
und erzählte mir so viel von den Samlandsagen, dass ich mich nach einigem Zögern entschloss, auch bei unseren Arbeitern danach zu fragen. Grosse Hoffnungen hegte ich nicht.
Mein erster Weg führte mich zu Frau W., meiner liederkundigsten Frau. In einen grossen Beutelsteckte ich einen Schreibblock, einen Kasten mit einem halben Dutzend spitzen Bleistiften, einen Anspitzer, eine Düte mit Pfefferkuchen und Bonbon und eine Flasche süssen Johannisbeerwein
Auf mein bescheidenes Anklopfen und das von innen klingende „Herein” trat ich in die Stube von Frau W. Das nun folgende Gespräch habe ich damals wörtlich aufgeschrieben.
Frau W. „Ach Gottke, ons Fruuke kimmt!”
Ego: „Guten Tag!”
Frau W. „Dankscheen, dankscheen, Fruuke!”
Auf dem rechten Arm hält Frau W. ihr kleines Grosskind und mit der linken Hand fährt sie, ihren Schürzenzipfel ergreifend, über den Stuhl.
Frau W. „Hucke Se sick hen, Fruuke, is koolt hiede buute.”
Ego: „Ja, kalt, und ich habe Ihnen etwas zum Aufwärmen mitgebracht, eine Flasche Johannisbeerwein und etwas zum Lutschen für den Kleinen, damit er hübsch still ist.”
Frau W.: „Ach, mein Zeit, dat kann ick doch oowä nich välange, Frauke.”
Ego: „Nein, aber es schickt sich doch nicht, dat de Fruu mit leddje Händ kimmt.”
Frau W. „Na jo, dat is wohr, dat is wohr!”
Ich sitze nun am Tisch und schreibe, während Frau W. dem Kind eine reine Schürze umbindet.
Ego: „Haben Sie sich wieder auf Lieder besonnen, Frau W.?”
Frau W. „Jo, Fruuke!” — Sie reicht das Kind ihrem Mann, der ist Invalide und liegt auf einem Strohsack neben dem Ofen: — „Nimm det Kind, oowä loot et nich belke, dat steert de Fruuke.” — dann geht sie an ihren Schrank, nimmt von oben eine Cigarrenkiste und drückt mir daraus eine Anzahl geschriebener Liedertexte in die Hand. — „Mehr hebb ick noch nich!”
Ich sehe die Lieder durch, bei einem bleibe ich halten. Es fängt an: Dort droben auf jenem Berge, da steht ein Wirtshaus fein.
„Können Sie mir das Vorsingen? Bloss so! Nachher zum Notenschreiben kommen Sie bitte wieder ans Klavier, ja?”
Frau W. singt eine alte Ballade.
Ego: „Herrgott, ist das schön! Ist das Lied schön! Das muss ein sehr altes Lied sein. Ich freue mich so darüber. Die alten Lieder sind meine liebsten. Wo haben Sie das bloss her?”
Frau W. „Von ä oole Wilt is dat noch, un ick hebb et mi up ä Spenn jelehrt. Frehä sung wi dat noch, oowä hiede kenne de Merjelles et nich mehr, se sin to dammlich to dem.”
Ego: „Ja, de Spenn, das muss früher hübsch gewesen sein So viel lustiges junges Volk mit Gesang zusammen. Und wenn sie heiser waren, wurden Geschichten erzählt, nicht wahr?”
Frau W. „Jo, un Rotselkes upjejeewe! Ach Gott, weer dat hibsch.”
Ego: „Zu Hause habe ich auch von Märchen und Geschichten gehört, die „up ä Spenn vätelld wurde”. Aber ich war noch zu jung und habe alles vergessen. Heute könnte ich darum weinen, dass ich sie nicht, wie jetzt die Lieder, aufgeschrieben habe. Die alten Leute, die sie in Roschenen noch kannten, schlafen in der Erde und ihre Märchen mit ihnen. — Ich stütze den Kopf in die linke Hand und
wiederhole traurig: „Weinen könnte ich um die alten Märchen.”
Frau W. „Ohä, wejen dem wäre Se doch nich jriene, Fruuke? Von deene Spennstoowemärkes sin noch vellich da.”
Ego: „Erzählen Sie mir eins, ich werde gleich mitschreiben, — bitte, ja?”
Frau W. „Wat will de Fruuke heere? Et jifft twee Sorte Märkes: de Schoolmärkes und ons Märkes. Ick denk, de Märkes, wo in de Beekä stöhne, bruukt sick de Fruuke doch nich vom oole Wief vätälle to loote, dee sin doch notoleese, na nich?”
Ego: „Ja, das schon, aber erzählen Sie mir, wozu Sie Lust haben, ja? Ich werde schreiben.”
Frau W. „Wat, schriewe? Doch bei nich woä det ganze Märke?”
Ego: (fröhlich auflachend) „Doch, det ganze Märke un noch veel mehr, Fruu W.”
Frau W. „Nee Fruuke, denn michte Enne je de Händ vom veele Schriewe väkreeple, wenn Se dat allä upschriewe wulle. Nee, dat jeit nich! Ick väwundä mi je nu all immä, wat Se da schriewe, wielt ick mit Enne red.”
Ego; „Ach, dat is man so! Und mit dem Schreiben sein Sie ohne Sorge, es geht schon.”
Frau W. hatte inzwischen ihrem Grosskind die Flasche gegeben, nahm jetzt ihr Strickzeug, setzte sich zu mir an den Tisch und begann zu erzählen. Sie sprach plattdeutsch, und ich schrieb nach ihrem Diktat wörtlich hochdeutsch, fühlte aber nur zu gut die verzerrte Widergabe. Dazu kam noch, dass ich der Erzählerin nicht rasch genug folgen konnte. Frau W. sah mir auf die Finger und wartete immer, bis ich fertig war, wobei sie sichtbar gelinde Zweifel an meinem Verstand zu hegen begann, denn ganze Märchen aufschreiben, das hatte noch niemand getan und es musste eine ungeheure Arbeit sein. Durch diese infolge langsamen Schreibens entstandenen Pausen
wichen die Gedanken natürlich ab, und das Märchen litt inhaltlich sehr. Unwillkürlich fing ich an, einzelne, immer wieder kehrende Worte wie z. B. König in Kg. oder auch nur K. zu kürzen.
Dass mir die ersten Märchen nicht sonderlich gefielen, störte mich wenig, denn ich wusste aus Erfahrung, dass man zu den Schätzen des Volksgutes, wenn sie überhaupt vorhanden sind, erst nach langsamer, mühevoller Arbeit gelangen kann, und auch, dass sich die Frauen zuerst an die neue Sache gewöhnen mussten. Darum habe ich auch nie ein Märchen abgelehnt, ebenso wenig wie früher nie ein Lied oder sonst etwas. Ich habe den Frauen nur immer wieder versichert, wie prächtig und heimatlich schön ich das alles fände. Kritik habe ich nie geübt, und wenn mal etwas nicht ganz klappte, so habe ich die Schuld bei mir gesucht und es auch gesagt, was dann immer grosse Zufriedenheit bei den Frauen auslöste. Ganz besonders habe ich mich der Dummheit bei den Melodien beschuldigt, um sie ja recht oft aus dem Volksmund hören zu können.
Nach den ersten Versuchen erschien es mir unbedingt notwendig, irgendwie plattdeutsch zu schreiben. Es war ein Hindernis, das überwunden werden musste. Die phonetische Schreibweise erforderte zu viel Aufmerksamkeit und auch das Einhalten einer Rechtschreibung. Beides hätte mich abgelenkt und das durfte nicht sein, denn ich musste, neben dem Schreiben, durchaus Anteilnahme sein, wollte ich die Erzählerlust der Frauen wach erhalten. So entschloss ich mich zu einer nur lautgetreuen Wiedergabe. Der Versuch fiel besser aus als ich dachte, vor allem Hessen sich Kürzungen der einzelnen Worte sehr gut machen. Handelte es sich z. B. um einen Grafen so wurde das Wort zu ersten Male ausgeschrieben und eine 1 darüber gemacht, etwa so: „Groof.” Im weiteren Verlauf des Märchens wurde dann nur noch eine 1 geschrieben. Die Gräfin bekam die Nummer
2. Hiess es aber Groofewief, so wurde es in 2Wf abgekürzt und Groofefruu in 2Fr. Diese Art der Kürzung der Hauptpersonen hielt ich zunächst fest, wobei ich auch das Wort König häufig nur mit einem kronenähnlichen Haken notierte. Bald hatte sich auf diese Weise eine Kurzschrift herausgebildet, bei der der Satz: „Et weer emool e Keenich” lautete: „Et wr 1 x e Kg” oder ähnlich; denn liessen mir die Leute mehr Zeit, sprachen sie langsam und bedächtig, so schrieb ich mehr oder weniger die Worte aus. An demselben Tage noch schrieb ich dann die Kladden mühelos ab. So hatte sich eine Kurzschrift herausgebildet, die es mir ermöglichte, unendlich rasch plattdeutsch zu schreiben. Die Frauen brauchten jetzt kaum noch Rücksicht auf mich bei dem Diktat zu nehmen und erzählten flott und ungehemmt.
Bei jeder neu hinzugekommenen Märchenerzählerin galt es immer wieder von Neuem das Misstrauen zu besiegen. Fragte ich die Frauen, ob sie nicht ein Märchen wüssten, so bekam ich unweigerlich ein schroff ablehnendes „Nee” zu hören. Davon Hess ich mich nun nicht abschrecken und erzählte, oder lieber noch, las ich eines meiner gesammelten plattdeutschen Märchen vor (damit sie sich gleich an das Aufschreiben meinerseits gewöhnten) und nannte auch meine Gewährsmännin. Wenn ich dann geendet hatte, blitzten die Augen der Frauen auf und mit den Worten „na, dat weet ick ook” fingen sie an irgend etwas zu erzählen, einen Schwank, eine Sage oder ein Märchen. Nicht ganz leicht war es, zum Vorlesen stets ein solches Märchen zu finden, das der jeweiligen Stimmung der Zuhörerin angepasst war. Dazu musste man die Sorgen und den Gesichtsausdruck der Frauen kennen.
Wenn eine Arbeiterfrau z. B. ein krankes Schwein hatte, so war sie leicht geneigt, über Zauber und Behexen zu sprechen, und gab dann vielleicht auch eine alte Besprechungsformel her, aber sie war mit ihrer Sorge
auch derart beschäftigt, dass sie für ein Märchen kein Verständnis im Augenblick aufbringen konnte, eher schon für Teufelsgeschichten. Das Wissen um viele Besprechungsformeln, die ich im Laufe der Jahre aus dem Volk gesammelt hatte, trug sehr viel dazu bei, mir das Vertrauen der Arbeiterfrauen zu erwerben, zumal ich immer meine Gewährsmännin angeben konnte. Ich habe mich auch nicht gescheut, wenn die Frauen mich in irgend einer Not um einen Besprechungsvers baten, ihn zu geben.
Unbedingt nötig war es auch, dass ich an das Spuken zu glauben verstand. Anders hätte ich die Märchen nie bekommen. Ungläubigen erzählt man so etwas nicht, und ich wurde oft einem Kreuz- und Querfragen unterworfen, bis man sicher war, dass ich auch wirklich rückhaltlos an Spuk glaubte. Begründen tat ich es stets mit den Worten: „Es wird schon wahr sein, denn all die Leute, die vor uns daran geglaubt haben, sind auch nicht dümmer gewesen wie wir.”
Ich habe auch selbst mit altvertrauten Märchenerzählerinnen stets, bevor sie zu erzählen begannen, 5—10 Minuten lang über andere Märchen und Bruchstücke solcher geplaudert, um Stimmung zu schaffen. Dabei habe ich mich immer irgendwie entschuldigt, damit die Frauen nicht auf den ihnen sehr nahe liegenden Gedanken kommen könnten, dass mir ihre Märchen, die sie mir brachten, weniger wertvoll wären als die, die ich bereits hatte. Dieses Verfahren hatte sich bereits beim Liedersammeln bewährt, denn den Frauen fielen, während man mit ihnen sprach, immer wieder neue Märchen ein.
Bald merkte ich, dass die Frauen hübscher und lebendiger erzählten, wenn sie in freier Natur oder bei mir im Zimmer sassen, als wenn sie in ihrer eigenen Häuslichkeit waren. Es war ja auch verständlich, denn bei sich wurden sie durch all das, was sie an ihre laufende Arbeit gemahnte, abgelenkt. Mitunter kam ich dann auch den Frauen ungelegen, wenn sie z. B. Wäsche hatten oder sonst eine grosse
Hausarbeit verrichteten. Da bat ich sie denn zu mir nach Hause zu kommen, wann immer es ihnen passte. Sie waren es ja seit Jahren gewohnt, mir ihre Lieder zu bringen und fanden nichts Besonderes mehr darin. Ich setzte sie jedoch in meinem Zimmer stets so, dass sie weder meine alte Vitrine, die sie immer sehr bewunderten, noch einen blühenden Blumentopf sehen konnten, denn alles, was sie ablenkte, musste ich vermeiden. Am allerschönsten erzählten sie in der Dämmerung, aber das ging wieder des Schreibens wegen nicht. So habe ich denn an Winterabenden oft das Licht abgeblendet, um wenigstens für die Erzählerin eine Märchenstimmung zu schaffen, während ich schrieb.
Allmählich fingen die Frauen auch an, ihre Männer nach Märchen zu fragen, und Frau W. brachte mir viele von ihrem alten Vater. Dann aber hatte sie zuvor die Märchen vor seinen Augen in groben Umrissen aufschreiben müssen, damit sie „seine Märchen” nicht verdrehe, wie er sagte. Nachher erzählte sie doch frei und sagte, der Vater (er war zwischen 70 und 80 Jahren) wäre nun einmal komisch. Einige dieser Kladden habe ich dem Institut für Heimatforschung in Königsberg gegeben. Oft auch entsannen sich die Frauen nur irgend eines Bruchstückes und fragten dann andere Frauen im Dorf, die ihnen aushelfen konnten. Namentlich Frau Th. war darin gross. Sie hatte übrigens ihre Kinderzeit und den grössten Teil ihres Lebens in der nächsten Umgegend von Beisleiden verbracht.
Bei Märchen mit Melodien schrieb ich den Vers, den die Erzählerin sang, mit, und erst wenn das Märchen zu Ende war, bat ich, die Melodie noch einmal zu singen. Dann sang ich leise mit. Die Melodien wurden mir anfangs schwer, und ich habe oft zu hören bekommen: „Nee, Fruuke, dat is nich richtig, — dat ist so!” und immer habe ich freundlich gesagt: „Ich will von Ihnen lernen, bitte sagen Sie es mir, wie es ist”, oder auch „entschuldigen Sie bitte meine Dummheit, es will heute nicht so recht gehen.”
Dann spielte ich die Töne, wenn ich sie beherrschte, zugleich mit der Märchenerzählerin singend, mit einem Finger auf dem Klavier und schrieb mit der anderen Hand die Noten dazu. Da ich aber in der Notenschrift sehr unbewandert war, es auch rasch gehen musste, denn ich wollte unter allen Umständen den Frauen die Freude am Märchenerzählen nicht durch unnötige Langatmigkeit verleiden, machte ich auch hier von einer Kurzschrift Gebrauch. Dabei bekam z. B. das tiefe A einen Strich oben: „ā” und das hohe A einen Strich unten: „a”.
Mehr als über zwei Oktaven ging der Gesang ja nie. Diese Art Noten zu schreiben, war absolut zuverlässig und ging sehr schnell, zumal ich diese Methode schon seit Jahren beim Liedersammeln angewandt hatte. War so die Melodie aufgeschrieben, so spielte und sang ich sie mit der Erzählerin zusammen noch ein bis zwei Mal durch und machte mir, wo es nötig war, Pausen- und Betonungszeichen. An demselben Tage dann wurden die Noten abgeschrieben, mitunter aber auch noch in den Märchentexten mit Buchstaben festgehalten. Die Freude und Befriedigung der Frauen war unverkennbar, wenn alles genau so klang wie sie es sangen. Die Noten blieben dann noch einige Tage auf meinem -Klavier liegen, und ich sang und spielte sie an den folgenden Tagen in genau demselben Rhythmus noch mehrere Male durch.
Frau Th. und Frau L., die öfter bei mir im Hause zur Wäsche und zur Aushilfe tätig waren, erzählten meist bei der Arbeit. Wieder andere, besonders Männer, erzählten in den Vesperpausen auf dem Hof, wenn sie irgendwo sassen und ihren Kaffee tranken. Aber auch im Strassengraben und auf Feldrainen habe ich geschrieben, wenn die Arbeiterfrauen dort, vom Kartoffelhacken müde, zur Vesperzeit ausruhten.
Sehr bevorzugte ich die Holzhaufen. Ich hatte dort den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass auch andere
Frauen dazu kamen, eine Weile zuhörten und, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass das Unglaubliche wahr wäre und dass ich wirklich niemand beschändete, sondern schlichte Märchen aufschrieb, sie am nächsten Tage zu einer der Haupterzählerinnen gingen und ihr, an altem Volksgut erzählten, was sie wussten.
Oft, sehr oft habe ich genau dasselbe Märchen von verschiedenen Frauen immer wieder aufschreiben müssen, obwohl ich wusste, dass es zwecklos sei. Hätte ich gesagt, dass ich das Märchen schon habe, so hätte ich ihnen mit einem Schlage alle Lust zum Weitererzählen genommen. Mitunter aber, besonders auf den Holzhaufen, sassen auch mehrere Frauen zusammen und bekundeten durch vorgreifende Worte, dass sie das Märchen, das erzählt wurde, kannten. Diese beiden Arten erklären es, dass bei den einzelnen Märchen oft mehrere Erzähler angegeben sind.
Während der Jahre, in denen ich Märchen sammelte, bin ich fast nie ohne Schreibblock und Bleistifte spazieren gegangen.
Dass ich die Mühe der Frauen mit selbstgekeltertem süssem Johannisbeerwein, mit Obst aus meinem Garten, mit Honig von meinen Bienen und auch zur Weihnachtszeit mit Pfefferkuchen auszugleichen trachtete, war ja nur meine Pflicht, und zwar gab ich stets nach jedem Erzählen, damit die Frauen die Gaben gleich nach Hause nehmen konnten. Kamen die Frauen aber extra zu mir, so gab ich ihnen ausser dem anderen, nach der Arbeit, süssen Kaffee, Kuchen oder Butterbrot. Dabei erzählten sie mir dann meist noch in der Küche etwas, einen Schwank oder sonst etwas Lustiges. Wenn ich aber die Märchen unvermutet erhielt und nichts ausser Papier und Bleistift bei mir hatte, so brachte oder schickte ich ihnen das, was ich sonst immer gab, spätestens am nächsten Tage. Es war, am Wert gemessen, sehr wenig, aber cs bedeutete für die Frauen eine kleine Freude und mehr sollte es ja auch nicht sein.
Man hat mir seiner Zeit geraten, die Frauen mit Geld zu bezahlen, aber ich habe es nicht gewagt. Warum sollte ich sie den socialen Unterschied, den ich gerade, was die Volkskunde anbetraf, mit den Worten: „Heimat, unsere Heimat” zu überbrücken suchte, fühlen lassen? Ob sie mir für Geld überhaupt ihre Märchen, Sagen und Lieder gegeben hätten, bezweifle ich sehr. Immer habe ich den Frauen mit voller Überzeugung erzählt, wie schön unser heimatliches Kulturgut sei, und sie fühlten sich im Besitz dessen reich und gehoben. Sie wollten zeigen, dass sie auch das „Ihrige” hatten und gaben aus warmem, vollem Herzen.
Eine grosse Anzahl Märchen war schon gesammelt, als Herr Professor Ziesemer den Plan einer Herausgabe erwog.
Neue Schwierigkeiten! Die Frauen wollten nicht, dass ihre Namen gedruckt würden. Sie wollten es unter keinen Umständen! Es war in ihren Augen eine Schande, und damit musste ich mich abfinden. Ich hatte auch weder den Mut noch die Kraft, all das Vertrauen, das sie mir entgegen gebracht hatten, durch eine eigenmächtige Handlung zu verletzen, und war schliesslich froh, dass sie mit der Abkürzung ihres Namens und mit ihrem Bild in dem Buch einverstanden waren. Was aus den Märchen wurde, d. h., was mit ihnen geschah, war ihnen gleichgültig. Sie hatten sie mir geschenkt, und ich hatte das, ihrer Meinung nach, reichlich aufgewogen und auch eine übergrosse Arbeit damit gehabt. Und doch, als das Märchenbuch gedruckt vorlag, haben sie sich gefreut, und als dann später der Lehrer den Kindern in der Schule einzelne Märchen vorlas, da meinten sie, dass die Kinder doch endlich nun einmal „wahre Märchen und nicht erlogene Herrenmärchen” zu hören bekämen.
Wie der Druck des Buches vor sich ging und wie die Melodien in Rhythmus geschrieben wurden, darüber haben die Herren Prof. Ziesemer und Prof. Müller-Blattau selber in dem Buch berichtet.
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