Das Moosbruch
Eine der merkwürdigsten Gegenden im Königsberger Regierungsbezirke ist das sogenante große Moosbruch. Der Memelstrom ist auf Russischem Territorium in engen Ufern eingeschlossen. Auf diesseitigem Gebiet angelangt, tritt derselbe oberhalb Ragnit in eine ausgedehnte Niederung, welche nördlich bis an den Winge-, südlich bis an den Deime-Fluß reicht. Hinter Tilsit theilt der Strom sich in den Ruß- und in den Gilge-Fluß, welche beide mit mehreren Nebenarmen sich in das kurische Haff ergießen und ein Marschland, die sogenannte Lithauische Nierderung, bilden, welches zu den gesegnetsten und angebautesten Gegenden unserer Provinz, ja des Staates gehört. Südlich neben der Gilge mündet in das kurische Haff der Nemonien-Strom, gebildet aus dem Schaltlik-, Schnecke-, Laukne- und Timber-Fluß. Diese Quellflüsse umfassen eine 40.000 Morgen große Bruchfläche von unreifer Torfmasse, die eben unter dem Namen des großen Moosbruchs bekannt ist.
Der erwähnte Landcomplex erinnert bei dem Anblick der von der menschlichen Intelligenz theilweise noch ungebändigten Kraft der Natur an die primitivsten Zustände unserer civilisirten Erdtheils. In früherer Zeit hatte er außer dem Namen der "Kurfürstlichen Wildniß", dem Aufenthalt von Auerochsen, Bären, Wölfen und Elennen, in seinem unwegsamen Innern das Hauptgemeinsame, daß seine Ströme zur Hauptverbindungsstraße des einheimischen Handels mit den Nachbarstaaten dienten. Später, als vom großen Kurfürsten im Interesse der Handelsschifffahrt zur Vermeidung der gefährlicen Fahrt über das kurische Haff die aus der deutschen Ordenszeit flammende Idee einer Canalverbindung des Gilge-, Nemonien- und Deime-Flußes aufgefaßt, und von der verwittweten Gräfin Luise Katharina Truchseß zu Waldburg durch Anlegung des großen und kleinen Friedrichsgrabens verwirklicht wurde; erfolgte von dieser neugeschaffenen Wasserstraße aus, namentlich durch die 1726 geschehene Uebersiedelung der sogenannten Elbingschen Colonie, der Anbau der Litthauischen Niederung. So entstanden am großen Friedrichsgraben das fast zwei Meilen lange Dorf Groß-Friedrichsgraben, im Moosbruch die früher zum Kirchspiel Gilge gehörigen Ortschaften: Heidlauken, Schenkendorf, Schöndorf, Lauknen usw. Die Abkürzung des Schifffahrtsweges zwischen Nemonien und Gilge durch den Seckenburger Kanal, die Eindeichung der Niederungen durch fahrbare Dämme, die Entwässerung der Linkuhnen-Seckenburger Niederung durch die Petricker Schöpfwerke, die Abzweigung des Kirchspiels Lauknen von dem Kirchenverbande Gilge im Jahre 1845, endlich die Gründung der Zeitpacht-Colonien haben seitdem der sich Bahn brechenden Kultur frische Lebenselemente entgegen geführt.
Karte vom Großen Moosbruch um 1855 (aus der Riemannschen Kartensammlung)
Es sind nämlich bis in die neueste Zeit hin folgende Zeitpacht-Colonien gegründet worden:
A. Im Bezirke der Oberförsterei Nemonien:
Namen der Colonie | Verpachtete Moosbruchfläche | Wohn- | Stall- | Seelenzahl | |
Gebäude | |||||
Morgen | Quadratruthen | Zahl | |||
1. Grünheide | 133 | 79 | 17 | 18 | 105 |
2. Friedrichsdorf | 169 | 123 | 28 | 19 | 196 |
3. Neu-Heidlauken | 49 | - | 8 | 8 | 61 |
4. Neu-Heidendorf | 101 | 155 | 23 | 11 | 124 |
5. Neu-Bruch | 73 | 127 | 19 | 6 | 97 |
6. Franzrode | 486 | - | 75 | 8 | 374 |
7. Carlsrode | 370 | - | 58 | - | 254 |
Summa | 1383 | 124 | 228 | 70 | 1211 |
B. Im Bezirke der Oberförsterei Neu-Sternberg:
Namen der Colonie | Verpachtete Moosbruchfläche | Wohn- | Stall- | Seelenzahl |
Gebäude | ||||
Morgen | Zahl | |||
8. Neu-Süssemilken | 262 | 49 | 11 | 290 |
9. Wilhelmsrode | 210 | 39 | - | 189 |
Summa | 472 | 87 | 11 | 479 |
Karte vom Großen Moosbruch um 1890 (Karten der Königlichen Landesaufnahme Berlin)
Außerdem sind in diesem Bezirk von dem großen Moosbruch an Pächter aus Florweg, Alt- und Neu-Süsselmilken, Wilhelmsrode und Alt-Heidendorf noch 160 Morgen aufgethan, auf denen kontraktlich Gebäude nicht errichtet werden dürfen. Es sind also im Ganzen in der angegebenen Weise über 2000 Morgen verwerthet. Die Zeitverpachtung geschieht in der Regel auf zwölf Jahre, mit der Befugniß, die erforderlichen Wohn- und Wirthschaftsgebäude errichten zu dürfen, die Einrichtungen in den Zeitpacht-Colonien sind denen der wirklichen Gemeinden ähnlich geordnet. Strenge muß darauf gehalten werden, daß die Pächter nicht Einwohner aufnehmen, die zur Bewirthschaftung der Ländereien nicht erforderlich sind, damit sich hier nicht ein ländliches Proletariat ansammle, dessen Nahrungs-Verhältnisse nicht sicher gestellt sind. Eine fortgesetzte Wiederverpachtung der ausgethanen Flächen an die bisherigen Pächter liegt in dem Bereiche aller Wahrscheinlichkeit. Die Colonie Franzrode, durch deren Begründung in neuester Zeit die Colonisirungen im Moosbruch eine neue Gestaltung gewannen, trägt ihren Namen zu Ehren des Herrn Chefs der Provinz, Wirklichen Geheimen Raths und Ober-Präsidenten, Herrn Franz Eichmann Excellenz, der dieser wichtigen Angelegenheit wegen Culitivirung eines ausgedehnten Landstrichs und wegen Beschaffung von Wohnung und Unterhalt für so viele bis dahin besitzlose Personen fortgesetzt seine Fürsorge zugewendet hat.
Die Vegetation
Die genannten Colonien befinden sich fast sämmtlich an den Uferrändern der Quellflüsse des Nemonien. Das Große Moosbruch im Allgemeinen gehört seiner Entstehungsweise und gegenwärtigen Beschaffenheit nach zu den sogenannten Hochbrüchern, und bildet eine auf theils thonigem, theils sandigem Untergrunde lagernde, nahezu homogene vegetablische Masse, welche aus abgestorbenen, sich in der Oberfläche aber stets wieder erneuernden Moospflanzen und andern Kryptogamen besteht. Die untern Schichten dieser Masse erscheinen durch den Druck der oberen Lagen comprimirt und im Lauf der Jahrhunderte torfartig umgebildet, jedoch nicht zu einer als Feuerungs-Material verwerthenden Torfmasse. Der ganze Bruch ist höchst porös, und namentlich an der Oberfläche schwammartig locker, so daß die Eigenthümlichkeit des Schwammes, vermöge der Kapillarität das Wasser aufzufangen und in sich festzuhalten, bei der Gesammtfläche des Moosbruchs im großartigsten Maßstaabe zur Erscheinung kommt, da in der nassen Jahreszeit sich die Oberfläche des Bruchs weit über dasjenige Niveau erhebt, welche sie zur Zeit der Dürre einzunehmen pflegt. Letztere erhebt sich 8 bis 10 Fuß über das Niveau der nahen Flüsse, die Tiefe bis zum festen Untergrund beträgt an den tiefsten Stellen bis 30 Fuß. Die Vegetation auf dem bei Weitem größten Theile des Bruchs besteht lediglich aus den bereits erwähnten Moosen und andern Kryptogamen, denen sich hin und wieder dürftige, geringen Nahrungsstoff erhaltende Gräser beigesellen. Einen wohlthuend überraschenden Gegensatz zu der fast unabsehbaren sterilenFläche des Hochbruchs bilden die Ansiedelungen anf den Uferrändern desselben länges der obengenannten Flüsse. An die Streifen guter Wiesen, welche hier das Flußbett unmittelbar begrenzen schließen sich in einer Gesammtbreite von etwa 80 bis 100 Ruthen ganz ertragreiche Kartoffel- und Gemüse- (Zwiebel-) Gärten. Fußwege, mit Birken, Kiefern und Ebereschen bestanden, durchschneiden die Grundstück, während sich hin und wieder selbst vereinzelte Obstbäume in den Gärten sehen lassen. Diesen Umgebungen entsprechend, tragen die Häuser, welche die Kolonisten bewohnen, trotz ihrer durch die Rerrainbeschaffenheit bedingten leichten Bauart, und ihre Einrichtung nicht gerade den Charakter der Dürftigkeit an sich. Die Bewohner legen allerdings auf einen Luxus in der Bekleidung wenig Werth. Die ganze Landschaft aber gewährt immerhin ein freundliche Bild ländlicher Betriebsamkeit. Die Ansiedler haben keinen andern Boden zur Kulitivirung gefunden, als den gewähnlichen Moosbruchboden; die Hauptpunkte, auf welche sie ihre Bemühungen fortdauernd richten müssen, sind Entwässerung und Consolidirung, dann aber Düngung des Bodens. Die beiden ersten dieser Erfordernisse wurden erreicht durch die Anlage kleinerer und größerer Entwässerungsgräben, deren Systeme sich soweit verzweigen, daß der Anbau der Gartenfrüchte überall auf einzelnen, durch schmale aber tiefe Gräbchen getrennten Beeten erfolgt. Das dritte Erforderniß aber liefert fortdauernd den Ertrag der nahegelegenen Wiesen. Gestütz auf die Erfahrungen an den Rändern, hat man fortgesetzt die Kulturfähigkeit des ganzen Moosbruchs behaupten müssen. Das Material zur Düngung würde eben wegen der dem Moosbruch benachbarten großen Wiesenflächen nicht fehlen. Es müßte jedoch eine Entwässerung durch große schiffbare Kanäle erfolgen, die gerade auch zur Vermittelung der Communikation, welche ein Haupterforderniß bei der Kultivirung ist, unentbehrlich sind. Es sind jedoch wichtige Zweifel rege geworden, ob so bedeutende Kanäle in dem Moosbruchboden haltbar würden durchgeführt werden können. Jedenfalls würden diese Anlagen mit bedeutendem Kostenaufwande verbunden sein, und der Gewinn der ersten Zeitperiode würde unter keinen Umständen den Opfern entsprechen. Es kann sich empfehlen, mit großen Gesammt-Unternehmungen zu experimentieren, vielmehr ist es ein richtigerer Grundsatz der Staatswirthschaft, die fortschreitende Kultur sich selbst entwickeln zu lassen, und ihr nur in den Bedingungen allen Vorschub zu leisten, welche sie zu ihrer Entwicklung bedarf. Zu diesen Bedingungen gehört aber vor Allem die Erleichterung der Kommunikation, zu welchem Ende beim Moosbruch zur Zeit feste Kommunikationswege ins Auge zu fassen sind.
Landwirtschaft und Verkehrswesen
Vor Allem muß auch das Streben darauf gerichtet sein, die Kultur des Moosbruchs mit den Verkehr-Interessen der umliegenden Landestheile zu vereinigen. Die Litthauische Niederung, welche Butter, Schlachtvieh usw. in reichlichem Maaße produzirt, und dagegen ihren Bedarf an Rund- und Brotgetreide von Königsberg, an Magervieh und Pferden aus der Wehlauer und Insterburger Gegend bezieht, hat drei Hauptrichtungen des ein- und ausgehenden Verkehrs aufzuweisen. Die Verkehrsroute nach Tilsit, welche sich entweder des längs der Gilge laufenden Dammes, oder der durch die Linkuhnen-Seckenburger Niederung längs dem Schalteik- und dem Schnecke-Fluß sich hinziehenden Wege bedient. Die Route längs dem Seckenburger-Kanal und dem Großen Friedrichsgraben zur Kommunikation mit den Marktorten Labiau und Königsberg. Die Route von Lappienen über Seckenburg, Petricken längs dem Kleinen Friedrichsgraben, über Heidlauken, Schenkendorf, Schöndorf, Lauknen, Kupstinen, mitten durch das Große Moosbruch zur Kommunikation mit der Höhengegend um und hinter Mehlauken bis nach Insterburg, dem Stationspunkte der Königsberg-Eydtkuhner Eisenbahn. Alle diese Verkehrswege kommen auch dem Moosbruch zu Gute, natürlich am Meisten die letzte. Vor wenigen Jahren ist durch die Fahrbarmachung des Seckenburger Kanaldammes und die Errichtung einer tarifirten Fähre am Wiep-Kruge bei Neu-Gilge der Weg nach Labiau um mehrere Meilen abgekürzt worden. Für die Vervollständigung der Kommunikation durch das große Moosbruch nach Insterburg blieb jedoch noch viel zu thun. Wenn auch bereits eine ungehinderte Landverbindung von Seckenburg über den länges dem Kleinen Friedrichsgraben hinziehenden Damm bis nach Petricken stattfand, so fehlte doch zunächst die Fortsetzung des Weges von letztgedachtem Orte aus nach Heydlauken. Sodann bedurfte der im Nothjahre 1845 zur Abarbeitung von Zinsresten für Rechnung des Forstfiscus angelegten Wegedamm von Heidlauken nach Schenkendorf über Friedrichsdorf nach Schöndorf. Von Schöndorf aus fand dann eine ununterbrochene Kommunikation über Lauknen, Kupstienen, Schaudienen mit den Kirch- und Marktorten Mehlauken, Popelken, Skaisgirren, Aulowöhnen und Insterburg, mit der Königsberg-Wehlau-Tilsiter Chaussee und der Labiau-Tilsiter Landstraße statt.
Obgleich der Fiskus als solcher keine Verpflichtung hatte, so hat sich der Herr Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten doch bereit finden lassen, zur Hebung der ganzen Gegend, und namentlich der Cultur des Moosbruchs, die Kommunikation von Petricken über Heidlauken und Schenkendorf nach Schöndrof als vollständige Landstraße auf Staatskosten, nur unter Heranziehung der anwohnenden verpflichteten Dorfschaften zu Hand- und Spanndiensten, ausbauen zu lassen. Bereits die Jahre 1864 und 1865 hindurch ist an dieser neuen wichtigen Landstraße gearbeitet worden. Ueber die eigenthümlichen Schwierigkeiten und die sonstigen Verhältnisse bei der Bauausführung dieser sogenannten Moosbruchstraße hoffen wir in einem späteren Berichte weitere Mittheilungen zu machen. Hand in Hand mit diesem Hauptbau geht die Sorge und die Einleitung, alle Zeitpacht-Kolonien durch feste Wegedämme mit jener Moosbruchstraße und auch unter sich in Verbindung zu setzen. Diese Kommunikationen sind namentlcih wichtig für die Zeit des sogenannten Schacktargs (litthauische Bezeichnung für einen halben unsicheren Zustand), in welcher die Flüsse und das von ihnen überfluthete Land mit einer dünnen, nicht gang- und fahrbaren Eisrinde bedeckt sind.
Hoffen wir, daß auf diese Weise Manches für die Kultivirung des Großen Moosbruchs gewonnen sein.
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